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Publicly Available Published by De Gruyter December 7, 2021

Vordenker der Globalisierung

Zum Gedenken an Herbert Giersch

  • Karl-Heinz Paqué EMAIL logo

Zusammenfassung

Im Jahr 2021 wäre Herbert Giersch 100 Jahre alt geworden. Er war einer der prominentesten deutschen Volkswirte des 20. Jahrhunderts. Die weltumspannende Arbeitsteilung der Köpfe hat er vorausgesehen und herbeigewünscht. In diesem Beitrag würdigt ihn sein Schüler Karl-Heinz Paqué, heute Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg sowie Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der gemeinnützigen Herbert-Giersch-Stiftung.

JEL-Klassifikation: B2; D6; E1; E3; E4; E5; E6; F1; F3; F4; F6; H6; N10; N20; O11; O24; O4; P1; P2; P5

Einleitung

Einer der prominentesten deutschen Volkswirte des 20. Jahrhunderts ist zweifellos Herbert Giersch. Als Gründungsmitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage beim Bundeswirtschaftsministerium sowie als langjähriger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel hat er die wirtschaftspolitische Beratung sowie die Analyse globaler Veränderungen maßgeblich mitbestimmt. Drei Jahrzehnte – von den frühen sechziger bis zu den späten achtziger Jahren – war seine fachliche Stimme in Deutschland und darüber hinaus deutlich vernehmbar.

Der Verfasser dieser Zeilen gehört zu den vielen Volkswirtinnen und Volkswirten, die sich als Schülerinnen bzw. Schüler von Giersch bezeichnen würden. Kaum jemand von all denen, die bei ihm studierten, konnte sich seiner Aura entziehen. Selbst diejenigen – und davon gab es nicht wenige –, die seine marktwirtschaftliche Grundeinstellung nicht teilten, blieben auf ihn fixiert. Er prägte und propagierte Begriffe, die einige Jahre zum Standardrepertoire der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung gehörten, zum Beispiel „Konzertierte Aktion“ in den sechziger und „Eurosklerose“ in den achtziger Jahren.

Herbert Giersch pflegte Promovenden – auch mir – zu Beginn der Vorstellung ihrer Arbeit eine scheinbar einfache Frage zu stellen. Sie lautete: „Mit welcher Fußnote wollen Sie mit ihrer Arbeit in die Wissenschaftsgeschichte eingehen?“ Und er erwartete dann eine knappe konzise Antwort. Im vorliegenden Beitrag stelle ich – 100 Jahre nach seiner Geburt – diese Frage mit Blick auf Herbert Giersch selbst: „Mit welcher Fußnote wird er in die Wissenschaftsgeschichte eingehen?“ Ich tue dies natürlich mit Augenzwinkern, denn wir werden sehen: Was Giersch hinterlassen hat, ist weit mehr als eine Fußnote. Ich teile die Analyse in fünf Abschnitte. Der erste Abschnitt ist den Anfängen und der Ausbildung gewidmet, der zweite dem „frühen“ Giersch der Handelstheorie und Wohlfahrtsökonomik, der dritte dem „mittleren“ Giersch der Konjunktur- und Wachstumspolitik, der vierte dem „späten“ Giersch der Globalisierung und schließlich der fünfte Abschnitt dem „sokratischen“ Giersch des präzisen Wortes, der niveauvollen Diskussion und der fachlichen Förderung.

Dieser Beitrag ist nicht der erste, den ich zu Gierschs akademischer Lebensleistung verfasse. Aber es ist der umfassendste und persönlichste.[1] Er soll das Bild ausweiten und abrunden – mit objektiven Fakten bis zu subjektiven Eindrücken. Letztere entstammen vielen persönlichen Gesprächen, die ich mit Giersch führte, vor allem in meiner Assistentenzeit in den achtziger Jahren, einige sogar schon ab 1977 als Student der Volkswirtschaftslehre, einige andere nach seiner Emeritierung 1989 in der Zeit bis wenige Jahre vor seinem Tod 2010. Subjektive Eindrücke haben eine Stärke und eine Schwäche. Die Stärke liegt in ihrer Farbenkraft, denn sie können, wenn man Glück hat, den Geist des Gesprächs am besten einfangen, besser als trockene objektive Tatsachen. Ihre Schwäche liegt in ihrer Unzuverlässigkeit: In der Erinnerung wird manches geschönt, verstärkt oder verzerrt, was eigentlich gar nicht so gemeint war, wie es ankam. Der Verfasser hofft auf die Stärke und bekennt sich zur Schwäche.

1 Anfänge und Ausbildung

Herbert Giersch stammte aus Reichenbach in Schlesien. Er erzählte kaum etwas darüber. Ihm lag jede sentimentale Nostalgie fern. Im Jahr 1921 geboren, war Giersch im Zweiten Weltkrieg Soldat bei der Marine und studierte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Breslau, Kiel und Münster. Auch darüber sprach er wenig, obwohl er in Münster einen namhaften akademischen Lehrer hatte. Es war Walther G. Hoffmann, der „deutsche Simon Kuznets“, der ein gewaltiges Zahlenwerk hinterließ, das später vor allem Wirtschaftshistoriker beschäftigte: eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für Deutschland seit 1850 bis zum damaligen aktuellen Rand, zusammengefasst in einem monumentalen Werk (Hoffmann 1965), das bis heute aus der (quantitativen) wirtschaftsgeschichtlichen Forschung nicht wegzudenken ist. Hoffmann hinterließ bedeutende Schüler, darunter den Mitbegründer der deutschen Ökonometrie Heinz König und in dessen Gefolge Wolfgang Franz, den langjährigen Präsidenten des Zentrums für Europäische Wirtschaft (ZEW) in Mannheim.

Giersch jedoch gehörte nicht zu Walther G. Hoffmanns intellektuellen Schülern, obwohl er bei ihm studierte und in Münster promoviert wurde. Der Grund ist einfach: Der Ökonom Giersch war kein „Zahlenmensch“, der die Wahrheit in empirischen Fakten suchte. Seine Welt war die theoretische Erörterung, nicht die quantitative Schätzung. Statistik war nötig und wichtig, um die Welt zu systematisieren und Theorien zu testen. Dafür hatte Giersch Respekt, aber keinerlei Leidenschaft. Diese investierte er schon früh in Themen der positiven und normativen Theorie. Schon das Thema seiner Dissertation lässt dies erkennen: „Der Ausgleich der Kriegslasten vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit“ (Giersch 1948).

In diese Zeit der späten vierziger Jahre fielen auch private Weichenstellungen. Er heiratete 1947 in Münster Friederike Koppelmann, eine Studienkollegin und promovierte Volkswirtin. Und er gründete mit ihr nicht nur eine Familie mit schließlich drei Kindern, sondern auch eine lebenslange geistige Gemeinschaft. Wer im Hause Giersch eingeladen war, der wusste, was ihn erwartete: nicht nur unterhaltsames Geplauder, sondern auch spannendes Diskutieren und Nachdenken über den Zustand der Gesellschaft.

2 Der frühe Giersch: Handelstheorie und Wohlfahrtsökonomik

Mit der Habilitation 1950 und Aufenthalten bei der Organisation for European Economic Cooperation (OEEC, Vorläufer der OECD) in Paris begann Herbert Giersch sein Leben als akademischer Lehrer. Es folgte bis 1955 die Privatdozentur in Münster sowie eine Lehrstuhlvertretung in Braunschweig. Im Jahr 1955 wurde Giersch Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Dies war ein erster entscheidender Schritt: Noch beeindruckt von der internationalen Atmosphäre der OEEC in Paris bot auch die Saarbrücker Fakultät dem jungen Volkswirt einen zumindest stark europäischen Bezug, zumal die Eingliederung des Saargebiets in die Bundesrepublik Deutschland zunächst noch bevorstand. In Saarbrücken knüpfte Giersch im Umfeld seiner Fakultät Kontakte zu maßgeblichen liberalen Intellektuellen der Zukunft, allen voran zum Soziologen und späteren EU-Kommissar Ralf Dahrendorf sowie zum Vater der Freiburger Thesen der FDP, dem Juristen und späteren Bundesinnenminister Werner Maihofer.

Gierschs Veröffentlichungen in jener Zeit sind Fragen der wirtschaftswissenschaftlichen Methodik sowie der Außenhandels- und Wohlfahrtsökonomik gewidmet. Im Vordergrund steht das übergeordnete Thema, wie in einer höchst komplexen Welt überhaupt objektivierbare Kriterien zur Beurteilung gesellschaftlicher Lagen gefunden werden können, und wie Veränderungen dieser Lagen zu bewerten sind. Es geht im Einzelnen um die Theorie des Bestmöglichen, um Handelsoptimum, Zollunion und regionale Integration, um Akzelerationsprinzip und Importneigung, um Planung und den Preismechanismus, schließlich um Inflation und Deflation. Man merkt diesen Aufsätzen an, dass sie Teil jener Diskussion sind, die in der volkswirtschaftlichen Profession die fünfziger Jahre beherrschte.

Gesucht wurde nach Kriterien und Maßstäben für eine bessere Welt durch Wirtschaftspolitik – nach den Katastrophen der Weltkriege und der Zwischenkriegszeit. Es war die große Epoche der paretianischen Wohlfahrtsanalyse, und der frühe Giersch schwamm in dieser noblen Welle des intellektuellen Zeitgeistes kräftig mit. Große Namen wie Roy Harrod, John Hicks, Nicolas Kaldor, J. M. D. Little, James Meade, Paul Samuelson und Tibor Scitovsky tauchen in Gierschs Texten (und Fußnoten) immer wieder auf. Und vieles kreist um die Frage, wie Effizienzgewinne durch Handel und Integration in einen gesellschaftlichen Gesamtgewinn umgewandelt werden können, zum Beispiel durch tatsächliche oder hypothetische Kompensation der Verlierer allokativer Veränderungen.

Die fünfziger Jahre sind in vielerlei Hinsicht eine Zeit der wissenschaftlichen Reifung von Herbert Giersch. Im Nachhinein wird deutlich, dass diese Phase ihren Schlusspunkt mit der Publikation seines ersten Lehrbuchs erhält. Sein Titel: „Allgemeine Wirtschaftspolitik“. Untertitel: „Grundlagen“ (Giersch 1961). Giersch sucht in diesem Buch nach den Leitlinien, wie sie sich in der Auseinandersetzung mit der Wissenschaftstheorie und den großen gesellschaftlichen Zielen von Frieden und Freiheit bis zu Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand ergeben. Er schlägt einen großen Bogen, um dann mit der Theorie des sozialökonomischen Optimums (und des „Second best“) tief in die Wohlfahrtsökonomik einzutauchen und aus ihr heraus den Rahmen für eine rationale Wirtschaftspolitik abzustecken.

Er liefert dabei eine bis heute beispiellos differenzierte Darstellung – vielleicht nicht ganz leicht zu lesen, aber präzise und reichhaltig. Er präsentiert Systeme, Ideologien und Entwürfe der Wirtschaftspolitik – vom Merkantilismus über den klassischen Liberalismus bis zu marxistischen Leitbildern sowie, in der damaligen Terminologie, Neomerkantilismus und Neoliberalismus einschließlich der sozialen Marktwirtschaft. Selbst heute weitgehend vergessene Ideen des marktwirtschaftlichen Sozialismus im Geiste des großen polnischen Ökonomen Oskar Lange kommen zur Sprache – ein Beleg dafür, wie ernst Giersch auch die wohlfahrtsökonomischen Auseinandersetzungen jener Generation von Volkswirten und Philosophen nahm, die im Angesicht der totalitären Großexperimente der dreißiger und vierziger Jahre all ihre intellektuelle Kraft eingesetzt hatten, um für die Gesellschaft neue und bessere Leitbilder zu entwickeln, als dies der Kollektivismus tat.

Bemerkenswert dabei, dass Giersch sich nicht scheut, auch die Praxis unter die Lupe zu nehmen: Er stellt die Frage nach der Machtstruktur und der wirtschaftspolitischen Willensbildung in der pluralistischen Gesellschaft; er untersucht Zielsetzungen und Verhaltensweisen demokratischer Regierungen; er prüft die Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten von Zentralbanken und regionalen Regierungsinstanzen. Und schließlich zeichnet er detailliert den Weg von der wirtschaftspolitischen Diagnose zur Therapie.

Ursprünglich hatte Giersch nur ein einziges Lehrbuch zur Wirtschaftspolitik geplant, wie er im Vorwort zur „Allgemeinen Wirtschaftspolitik“ von 1961 vermerkt. Aber die Fülle des Stoffes zwang ihn, das Werk auf das zu beschränken, was er „Grundlagen“ nannte, und alles Weitere auf einen zweiten Band zu verschieben, den er bald darauf zu publizieren gedachte. Es kam allerdings aus guten Gründen erst Ende der siebziger Jahre dazu (Giersch 1977).[2]

In jedem Fall ist der Untertitel des ersten Bandes, „Grundlagen“, irreführend. Die „Allgemeine Wirtschaftspolitik“ ist keineswegs ein Werk für Anfänger, in dem ein Korpus von Wissen didaktisch aufbereitet wird, um Studierenden einen möglichst einfachen Einstieg in die Materie zu erlauben. Das Buch eignet sich eher für den sozialphilosophisch sensibilisierten Fortgeschrittenen, der nach methodischer und theoretischer Fundierung seines Faches sucht. Es ist nach allen Maßstäben anspruchsvoll zu lesen und setzt an vielen Stellen eine profunde Bildung voraus.

Im Nachhinein ist die „Allgemeine Wirtschaftspolitik“ deshalb sein erstes großes Werk, das man als „typisch Giersch“ einstufen kann. Denn es ist eigentlich überhaupt kein Lehrbuch. Es liefert eher das Destillat an theoretischem Wissen, das Giersch selbst in den großen intellektuellen Auseinandersetzungen seiner Zeit zur Wirtschaftspolitik gewonnen hatte – auch er dabei stets ein Lernender, ganz im Stil eines modernen Sokrates. Gerade dies erweist sich als charakteristisch für Giersch. Und es macht den besonderen langlebigen Wert des Werkes aus, auch heute noch – sechs Jahrzehnte nach seinem Erscheinen.

Für Dogmenhistoriker bleibt das Buch eine Fundgrube zur Analyse der faszinierenden Geisteswelt der Wirtschaftswissenschaft der fünfziger Jahre und der tragischen Jahrzehnte davor, jener Epoche von John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter sowie Oskar Lange und Abba Lerner und vielen anderen Größen der Wirtschaftswissenschaft. Vielleicht war Giersch der erste und letzte, der das Alphabet des paretianischen Denkens für die Wirtschaftspolitik präzise ausbuchstabierte – und dies ausgerechnet in einem Lehrbuch.

3 Der mittlere Giersch: Konjunktur- und Wachstumspolitik

Das Jahr 1963 brachte einen tiefen Einschnitt in Gierschs Werdegang. Er wurde Gründungsmitglied des neu geschaffenen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beim Bundesministerium für Wirtschaft, dessen Wissenschaftlichem Beirat er schon seit 1960 angehörte. Fortan betrieb er die wirtschaftspolitische Beratung mit jener streitbaren Leidenschaft, die für ihn typisch wurde.

Es war der Beginn der großen Zeit keynesianischer Steuerung. Giersch wurde zu einer zentralen intellektuellen Figur in der Vorbereitung und Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes mit seinen Zielen der Preisstabilität, der Vollbeschäftigung und des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts bei angemessenem Wachstum, das sich damals nach den Jahren des deutschen Wirtschaftswunders zu normalisieren begann. Ab 1966 entstand das kongeniale Gespräch mit Karl Schiller, dem politischen Repräsentanten der keynesianischen „Globalsteuerung“ und persönlichen Freund. Diesem Gespräch entstammt unter anderem der Begriff „Konzertierte Aktion“ für jene Abstimmung von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik, die eine konjunkturelle Stabilisierung ermöglichen sollte, durch Kooperation statt Konfrontation.

Diese ambitionierten Ideen und Ziele standen Pate bei der Überwindung der scharfen, aber kurzen Rezession 1967. Als weniger erfolgreich erwiesen sie sich in der darauffolgenden Phase des inflationären Booms, der 1969 zu wilden Streiks und anschließend zu einer gewaltigen Welle der Lohnerhöhungen führte. Giersch und auch Schiller erkannten früh, dass die zu niedrige Bewertung der D-Mark im Rahmen des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse den Boom unmäßig befeuerte, die industriellen Kapazitäten übermäßig auslastete und den Arbeitsmarkt überhitzte – mit der Folge scharf steigender Löhne und Preise. Der Ausweg war allein die drastische Aufwertung der Währung, doch diese kam erst später mit dem kompletten Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973, als Giersch nicht mehr Mitglied des Sachverständigenrats und Schiller nicht mehr Bundeswirtschaftsminister war.

Giersch hatte 1969 eine neue Aufgabe übernommen: als Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und Inhaber eines Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der dortigen Universität. Von dort begleitete er die dramatischen wirtschaftlichen Entwicklungen der frühen siebziger Jahre, die schließlich im Gefolge einer drastischen Ver

 
          (Foto: privat)

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teuerung des Erdöls in die tiefe Rezession 1973/75 mündeten, der bisher schwersten seit der westdeutschen Währungsreform im Juni 1948. Schneller als andere erkannte Giersch, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte. Deutsche Industrieprodukte verteuerten sich auf den Weltmärkten – eine Folge der massiven Erhöhung von Löhnen und Rohstoffpreisen im vorangegangenen Boom. Dies war nicht mit keynesianisch hochgefahrener Nachfrage über eine expansive Geld- und Fiskalpolitik zu kurieren, denn diese würde nur die Inflation weiter anheizen. Das adäquate Instrument war dagegen die Rentabilitätspolitik, ein frühes Synonym für den später aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Begriff der „Supply side policy“, zu Deutsch: Angebotspolitik. Gemeint war damit eine Verbesserung der Angebotsbedingungen, um das Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft preiselastischer zu machen.

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war also laut Giersch ganz anders zu führen als in der Vergangenheit. So begannen für ihn Jahre der Auseinandersetzung mit jenen vielen Ökonomen und Politikern, die den Wandel der Zeit nicht wahrhaben wollten. Zudem sorgte die zweimalige schubweise (und irreversible) Schrumpfung der deutschen Industrie in den beiden Konjunkturkrisen 1973/75 und 1980/82 für den stufenweisen Anstieg der Arbeitslosenquote bis auf 8 bis 9 Prozent. Dieser war nurmehr strukturell zu deuten: als das Ende der Phase massiver industrieller Expansion und Beginn eines verschärften Strukturwandels, der mehr Flexibilität und Innovationskraft erforderte, als das traditionelle deutsche Industriemodell eines „Rheinischen Kapitalismus“ bisher ermöglichte.

In diese Zeit fiel die Veröffentlichung des zweiten Bandes von Gierschs Werk „Allgemeine Wirtschaftspolitik“. Dieser wurde ganze 16 Jahre nach dem ersten Band, den „Grundlagen“, publiziert, unter dem Titel „Konjunktur- und Wachstumspolitik in der offenen Wirtschaft“ (Giersch 1977). Das Buch schlägt die Brücke zwischen dem keynesianischen Stabilitäts- und dem neoklassischen Wachstumspolitiker Giersch, zeichnet also gewissermaßen den Wandel in seinem Denken nach. Genau wie der erste Band ist auch der zweite kein pädagogisch konzipiertes Lehrbuch, das die Zusammenhänge für Studierende didaktisch einfach erfassbar macht. Es ist vielmehr ein Kompendium der Wirtschaftspolitik, in dem ein weites Spektrum der großen Fragen der Zeit systematisch durchdiskutiert wird – im typischen Giersch-Stil: mit einer Fülle von Untergliederungen und Spiegelstrichen, mit sorgfältiger Abwägung der jeweiligen Pros und Contras theoretischer Modelle und politischer Maßnahmen.

In Länge und Themen der acht Kapitel gibt es dabei noch ein klares Übergewicht der Konjunktur- über die Wachstumspolitik, doch spürt man bei der Lektüre zumindest im Nachhinein den Wandel von Gierschs Denken: Während er in den ersten Kapiteln den Schwerpunkt noch eindeutig auf die sogenannte Verstetigungspolitik legt, rücken in den Schlusskapiteln immer mehr Fragen der Einkommens-, Markt- und Wachstumspolitik in den Vordergrund. Zum Zeitpunkt der Publikation war dieser Wandel allerdings schon weitgehend abgeschlossen – als Ergebnis jener geistigen Offenheit, die für Giersch so charakteristisch ist.

Denn Herbert Giersch blieb ein Pragmatiker in seinem Denken, das sich auf stilisierte Fakten stützte, nicht auf unumstößliche Theorie. Er lieferte eine pragmatische Interpretation der Welt, wie er sie sah, und zog wirtschaftspolitische Schlüsse daraus. Dogmatismus lag ihm fern. Dies hinderte Gierschs Gegner natürlich nicht daran, in der durchaus aufgeheizten Atmosphäre der Zeit seine Abwendung von der Nachfragepolitik als sture und starre neoklassische Modellanwendung zu diffamieren. Das war sie indes nie. Dies zeigte sich besonders deutlich in den frühen achtziger Jahren, als Giersch die Steuersenkungen von Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten als angebotspolitische Instrumente nachdrücklich befürwortete, auch wenn sie zu hohen staatlichen Budgetdefiziten und damit zu einer kräftigen Aufstockung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führten. Dies hielt er für den richtigen Weg: Erhöhung der Elastizität des gesamtwirtschaftlichen Angebots bei gleichzeitiger Nachfragesteigerung – nicht einseitige Angebotspolitik. Dass die globalen Finanzmärkte diesen amerikanischen Politik-Mix mit massiven Kapitalzuflüssen bei scharf steigendem Dollarkurs belohnten, erschien ihm logisch und richtig.

Diesen wirtschaftspolitischen Mut wünschte Giersch sich auch in Europa. Er sah ihn aber zunächst nicht, weshalb er eine europäische Krankheit diagnostizierte: „Eurosklerose“. Damit bezeichnete er jene Kombination aus hoher Besteuerung und Regulierung der Arbeits- und Produktmärkte, wie er sie in Kontinentaleuropa und allemal in Deutschland beobachtete. Politische Forderungen nach Liberalisierung, wie sie der liberale Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, ein enger Freund Gierschs, schon 1982 forderte, fanden dessen volle Unterstützung.

Ebenso beteiligte sich Giersch an der gemeinsamen Initiative „Employment and Growth in Europe“, zusammen mit Olivier Blanchard, Rüdiger Dornbusch, Jacques Drèze, Richard Layard und Mario Monti, die für Europa einen „Two-Handed Approach“ von Angebots- und Nachfragesteigerung forderten (Blanchard et al. 1985). Dies war ganz in Gierschs Sinn, auch wenn sich seinerzeit angebotspolitische Hardliner darüber mokierten und Protagonisten des Keynesianismus über die weltanschauliche „Flexibilität“ von Giersch schmunzelten. Echte politische Fortschritte auf europäischer Ebene erkannte Giersch allerdings erst mit der Initiative von EU-Kommissionspräsident Jacques Delors zur Vollendung des Binnenmarktes. In ihr sah Giersch eine große Chance zur Auflösung der Eurosklerose.

4 Der späte Giersch: Weltwirtschaft als Vulkan

Herbert Giersch hat das Institut für Weltwirtschaft stark geprägt. Aber in gewisser Weise hat „sein Haus“ umgekehrt auch ihn stark geprägt. Immerhin trägt der Titel seines 1977 erschienenen Lehrbuchs zur Konjunktur- und Wachstumspolitik den sperrigen Zusatz „in der offenen Wirtschaft“. Dies deutet schon an, dass sein Blick sich mehr und mehr in Richtung internationaler Verflechtung und globaler Arbeitsteilung drehte. Was sich an außenwirtschaftlichen Schwerpunkten in der Zeit seiner Mitgliedschaft im Sachverständigenrat noch auf die Frage der Flankierung der Konjunkturpolitik durch feste oder flexible Wechselkurse konzentrierte, wurde in den siebziger Jahren immer stärker zu einem breiten Interesse an der weltwirtschaftlichen Entwicklung insgesamt. Manches von dem, was er an handelspolitischen Konzepten in den fünfziger Jahren noch statisch-allokationstheoretisch analysierte, kehrte jetzt Schritt für Schritt zurück: im Gewand einer umfassenden Theorie des weltwirtschaftlichen Wandels, die seine neue angebotstheoretische Interpretation der Lage Deutschlands und Europas maßgeblich anreicherte.

Mit einer Serie von jährlichen Tagungen zu globalen wirtschaftlichen Herausforderungen schuf Giersch die wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine neue Vorstellung vom globalen Wandel. Dazu zählten damals noch völlig neue Themen wie die Umweltökonomik und Arbeitsmarktforschung sowie der Handel mit Dienstleistungen und die internationale Kapitalmobilität. Wer sich heute im Abstand von rund fünf Jahrzehnten die Konferenzbände der damaligen Zeit ansieht, die das Institut für Weltwirtschaft publizierte, der kann nur staunen über das Ausmaß an brisanter Aktualität in der damaligen Zeit und langfristiger Bedeutung für die fernere Zukunft. Dies zeigt: Auch als Forschungsmanager war Giersch ein Vordenker und Pionier.

Der Kern von Gierschs Denken schälte sich dabei seit den späten siebziger Jahren in einem Modell des weltwirtschaftlichen Wandels heraus, dem wir Studierende einen prägnanten Namen gaben: Gierschs Vulkantheorie.[3] Sie fügt Elemente der deutschen Raumwirtschaftstheorie in der Tradition von Johann Heinrich von Thünen und August Lösch sowie der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von Joseph Schumpeter in überaus pragmatischer Weise zusammen. Die Weltwirtschaft wird demnach interpretiert als eine Art Kegel, dessen hochindustrialisiertes Zentrum die global höchste Arbeitsproduktivität und das höchste Einkommen aufweist. Dieser Kegel wird gleichsam zum – wohltätigen – Vulkan, weil in seinem Gipfel durch Innovationen immer neues Wissen erzeugt wird, das dann als „Lava“ das niedrigere Gelände, also die bisher ärmeren Länder befruchtet, die es sich durch Adaption aneignen. Ob es global eine Divergenz oder Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommen gibt, hängt von der relativen Geschwindigkeit von Innovation und Adaption ab – und das kann in unterschiedlichen historischen Phasen auch ganz unterschiedlich ausfallen. Dabei spielt die Politik eine entscheidende Rolle. Sie kann die Innovations- und Adaptionskraft stärken oder schwächen, je nachdem, wie offen die Gesellschaft, wie marktwirtschaftlich die Steuerung der Ressourcen und wie leistungsfähig das Bildungssystem ausfallen.

Es geht also um ein permanentes Wettrennen zwischen „Reich“ und „Arm“ oder „Nord“ und „Süd“. Maßgeblich für den Erfolg ist dabei auch die Richtung der Kapitalflüsse: Wer die politischen Weichen richtig stellt, erhöht die Rendite von Investitionen und zieht Kapital an – und auch begabte Menschen, die sich mit ihrem Wissen und Können in die weltumspannende „Arbeitsteilung der Köpfe“ (noch ein markanter Begriff von Giersch) einklinken wollen. Wichtig ist: Die Arbeitsteilung ist offen. Sie beschränkt sich nicht auf die „alten“ Industrieländer, sondern umfasst weite Teile der Erde, die in der traditionellen Terminologie des Westens als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden. Diese hat die Chance aufzuholen und, wenn der Westen in Sklerose verfällt, diesen sogar zu überholen.

Giersch liebte die Metapher des offenen Rennens zwischen Reich und Arm in der Weltwirtschaft, die er aus seinem Denkmodell herausdestillierte. Der eklektische Charakter seiner „Vulkantheorie“ störte ihn nicht, auch wenn er bisweilen zu spöttischen Bemerkungen einlud. Berühmt wurde der ironische Kommentar von Robert Solow, dem späteren Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft und engen Freund von Herbert Giersch, der auf einer Konferenz des Instituts für Weltwirtschaft Ende der siebziger Jahre zu Gierschs Vulkantheorie bemerkte: „Nobody in the world I would allow to theorize this way – except Herbert“. Giersch stand zu seinem Modell. Und in einem späteren Festvortrag vor der American Economic Association im Jahr 1983 bestand er mit Blick auf seine Interpretation der Weltwirtschaft geradezu trotzig darauf, dass für ihn „relevance rather than rigor“ das entscheidende Kriterium für die Fruchtbarkeit einer Theorie sei (Giersch 1984, S. 105).

Im Rückblick kann man Giersch in dieser Hinsicht nur Recht geben. Immerhin präsentierte er seine Vision schon ab den späten siebziger Jahren. Wenige Jahre später nahmen dann mächtige Aufholprozesse großer Entwicklungsländer Fahrt auf. China und Indien öffneten sich, in Osteuropa und Ostdeutschland ging die Planwirtschaft endgültig zugrunde und verschwand. Giersch konnte indes zum Zeitpunkt des Entstehens seiner Vulkantheorie nur auf die Erfolgsgeschichte der vier ostasiatischen Tigerländer verweisen: Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan. Sie dienten ihm damals als fast singuläre Beispiele. Erst später entwickelten sie sich zu Vorbildern für andere Ländergruppen.

Auch der damalige Stand der Wachstumsökonomik war keine große Hilfe für Giersch. Denn sie verharrte zunächst in den Fängen des (zweifellos genialen) Solow-Modells, das als Hauptdeterminante des Pro-Kopf-Einkommens einen (exogenen) Stand des technischen Wissens postuliert und ein volkswirtschaftliches Wachstum jenseits der technischen Fortschrittsrate nur als Anpassung an einen neuen Steady State interpretiert (Solow 1956). Für Giersch war das – bei aller Freundschaft zu Robert Solow – ein steriles Modell. Und in der Tat wurde Gierschs Vulkantheorie zu einem Vorläufer der Theorie des endogenen Wachstums, die durch Ökonomen wie Paul Romer (1990), Gene Grossman und Elhanan Helpman (1991) sowie Philippe Aghion und Peter Howitt (1992) in den neunziger Jahren in mathematisierter Form die Journals beherrschte. Wie Giersch nutzten auch diese Autoren Schumpeter als geistigen Ahnherrn. Auch Paul Krugmans neue Handelstheorie (Krugman 1990) sowie seine raumwirtschaftliche Interpretation des Handels (Krugman 1991) stehen in der Tradition von Giersch, der mit ihm intensiv darüber diskutiert hatte.

All dies ist Beleg für die Fruchtbarkeit seines Denkens in der Wissenschaft: Giersch war eben ein Pionier, im wahrsten Sinne des Wortes ein „Vordenker“. Die Früchte seiner Arbeit bestanden allerdings nicht direkt in neuen akademischen Denkschulen, sondern sie bereiten diese „nur“ vor. Und als sie dann später existierten, hat sich Giersch um die Weiterentwicklung seiner eigenen Theorie – und deren Einbettung in der modernen Forschungsfront – überhaupt nicht mehr gekümmert, zumal die moderne mathematisierte Modellbastelei der jungen Generation von Ökonomen an ihm, dem Älteren, fast spurlos vorbeiging. Da lag eben nicht seine Leidenschaft. Und es entsprach auch nicht seiner Vorbildung als Volkswirt der „alten“ Schule, deren Mitglieder ihr stolzes Fach als eine Sozialwissenschaft im klassischen Sinn betrachtete – und nicht als angewandte Mathematik.

Für den Vordenker gibt es leider keine Nobelpreise, wie schon einer von Gierschs Schülern, der inzwischen verstorbene frühere Leiter des F. A. Z.-Wirtschaftsressorts, Hans D. Barbier, einmal bedauernd bemerkte. Aber immerhin wurde Giersch eine Fülle von anderen hohen Ehrungen zuteil, in denen man seine besonderen Leistungen würdigte. Noch viel wichtiger war allerdings die Breitenwirkung, die sein Werk hinterließ: Viele von jenen, die begeistert bei ihm studierten oder seine Publikationen lasen, wurden von seinem Denken geprägt. Wer sich heute zur Veränderung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung äußert, der weiß vielleicht gar nicht, wie stark seine Gedanken indirekt von Herbert Giersch beeinflusst sind.

Diese Wirkungskraft reicht bis in den sozialethischen Diskurs hinein. Gerade im Alter betonte Giersch immer wieder, dass die liberale offene Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich nützlich ist, weil sie Wohlstand und Wachstum schafft. Sie ist auch als ethisches Prinzip unentbehrlich, denn sie stärkt die Position des Außenseiters, der noch keine Fürsprecher hat, um seine Interessen zu vertreten, und der nur durch seine Ideen und Leistungskraft einen würdigen Platz in der Gesellschaft finden kann. Das war für Giersch eben die „Moral des Marktes“, gerade auch im Wandel der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und im Umgang mit künftigen Generationen.

Diese moralische Seite des Marktes war ihm auch mit Blick auf die Globalisierung wichtig. „Abschied von der Nationalökonomie“ – so lautete denn auch der Titel eines kleinen Buches von Herbert Giersch (2001), das in seinem 80. Lebensjahr erschien. Er blickte damals auf fünf Dekaden der Tätigkeit als Volkswirt zurück, zuletzt als emeritierter Professor in Kiel. Sein Fazit war, dass sich sein akademisches Fach in dieser Zeit komplett verändert hatte. Nicht mehr das „Nationale“, der „Staat“ oder gar das „Volk“ stand im Mittelpunkt, sondern die Weltwirtschaft – als großer integrierter Markt, in dem bei gutem Willen die gesamte Menschheit ihren Platz der Spezialisierung finden würde. Immer öfter beschrieb er die Weltwirtschaft als eine globale „Katallaxie“ im Sinne der Begriffswelt von Friedrich August Hayek, der damit als Philosoph der Marktwirtschaft den Austausch auf Märkten bezeichnete. Dass der griechische Originalbegriff auch bedeutet, aus einem Feind einen Freund zu machen, ließ den Terminus Katallaxie für Giersch nur noch attraktiver erscheinen, als er ohnehin schon war.

So wünschte er sich die Globalisierung: als Katallaxie. Er empfand diese Entwicklung als einen großen Fortschritt für die Menschheit – heraus aus der nationalen Enge in die vernetzten Tauschbeziehungen der modernen Globalisierung. In Gierschs Worten: die Arbeitsteilung der Köpfe. Ihn, der noch die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg als junger Mensch erlebt hatte, erfüllte es mit großer Genugtuung, dass es ihm vergönnt war, im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Beitrag zu dieser aus seiner Sicht glücklicheren Welt beizusteuern. Es ist eine Sicht, die 20 Jahre später in merkwürdigem, aber leuchtenden Kontrast steht zum Pessimismus, der inzwischen um sich greift – jedenfalls mit Blick auf die Globalisierung.

Ein Vordenker und Pionier ist kein Prophet. Das gilt auch für Giersch. So haben die zurückliegenden Jahrzehnte der Globalisierung manches Phänomen hervorgebracht, das er nicht annähernd voraussagte: eine globale Finanzkrise als Folge verdeckter Risiken, die sich hinter neuen Anlageformen versteckten; einen säkular niedrigen Realzins, der auf eine Kapitalschwemme hindeutet, die ihm völlig fremd war; einen chinesischen Staatskapitalismus, der unter dem Deckmantel der Marktwirtschaft seinen globalen Einfluss nutzt, um geostrategische Ziele zu erreichen; jüngst eine Pandemie, die den weltumspannenden Wertschöpfungsketten einen harten Schlag versetzt hat; und schließlich eine globale Angst vor dem anthropogen verursachten Klimawandel und das prioritäre politische Ziel, diesen zu verhindern. Es liegt nahe zu fragen: Was hätte er zu all dem gesagt? Diese Frage ist aber bei Giersch falsch gestellt. Denn er war ein Meister darin dazuzulernen, auch ohne es bekennen zu müssen. Das hatte er auch schon in den siebziger Jahren im Streit um Nachfrage- und Angebotspolitik bewiesen. Das „Unerklärbare“ war für ihn kein Schrecken. Im Gegenteil, es hat seine Neugierde angestachelt. Diskurs statt Dogma, das war seine Leitlinie – ganz im Stil jener Philosophie, zu der er sich explizit bekannte: dem Kritischen Rationalismus von Karl Popper.

5 Der sokratische Giersch: Lehrer und Förderer

Herbert Giersch hatte viele Schülerinnen und Schüler. Aber war er deren Lehrer und Förderer? Instinktiv zögert man, diese Begriffe auf ihn anzuwenden. Der Grund: Pädagogik und Didaktik lagen ihm fern. Er beugte sich nicht zu den Studierenden herab, um ihnen die relevanten Zusammenhänge in einer besonders einfach gehaltenen Sprache zu erklären. Er betrieb auch keine gezielte Förderung derjenigen, die ihm zuhörten und mit ihm diskutierten. Er machte eigentlich genau das Gegenteil: Er lud die Studierenden in seine eigene Welt ein, nahm sie mit in den faszinierenden Freiraum der Wissenschaft und Wirtschaftspolitik. Aber sie mussten sich komplett selbst orientieren. Und genau dadurch wurden sie ernst genommen – als freie und selbstverantwortliche Persönlichkeiten.

Da gab es keine Sonderkonditionen. Mein erstes Seminar bei ihm im Sommersemester 1978 eröffnete er, an die Studierenden gerichtet, mit den Worten: „Bitte formulieren Sie klar und präzise. Hier gibt es kein ‚Trading of ignorance‘.“ Und genau das taten dann auch die Studierenden. Man spürte den Ruck, der durch sie ging. Sie formulierten tatsächlich klar und präzise, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Und er würdigte das. Dabei entstand die Atmosphäre einer Enquête-Kommission, nicht die einer Schulstunde. Deshalb waren seine Seminare – im Zwei-Wochen-Rhythmus, jeweils auf drei Zeitstunden ohne Pause angesetzt – zwar weithin gefürchtet, aber überall gerühmt: als Orte, an denen man „wirklich was lernt“.

Als Assistent war man Teil eines gedanklichen Produktionsbetriebs. Auch da wurde man um seine Meinung gefragt – oft übrigens zu Themen, die gar nicht direkt in den eigenen Zuständigkeitsbereich fielen. Das schmeichelte natürlich, zumal Giersch die geäußerten Meinungen erkennbar ernst nahm. Man fühlte sich klüger und wichtiger, als man objektiv war, und das motivierte, im eigenen Einsatz weit über den Ruf der Pflicht hinauszugehen. Es war ein Mechanismus der Selbstausbeutung, den Giersch geschickt in Gang setzte – und seine Assistenten konnten und wollten sich dem nicht widersetzen. Auf lange Sicht profitierten sie massiv davon. Giersch nannte dies mit marxistischem Augenzwinkern „reziproke Ausbeutung“.

Als akademische Persönlichkeit bestach er durch zwei zentrale Eigenschaften: Neugierde und Sprachkraft. Ihn interessierte praktisch jedes neue Phänomen, das ihm begegnete. Und er versuchte sogleich, es mit seinen (ökonomischen) Instrumenten der Analyse einzuordnen. Oft kam es vor, dass er spät in der Nacht über ein Thema nachgedacht hatte und seine Assistenten gleich am nächsten Vormittag zu sich rief, um darüber zu diskutieren. Gelegentlich machte er sogar auf dem Weg ins eigene Office einen Zwischenstopp im kleinen Büro des Assistenten, um das Thema bei diesem „zu deponieren“, mit der freundlichen Aufforderung: „Denken Sie mal darüber nach!“

Seine Sprachkraft war legendär. Es ist kein Zufall, dass ein Wort wie „Eurosklerose“ von ihm erfunden wurde, auch wenn später der Quellennachweis schwerfiel, weil der Begriff so schnell zum Allgemeingut wurde. Er liebte die bildhafte eingängige Sprache und hasste sowohl gestelzten Wortreichtum als auch den kryptischen Jargon der Wissenschaft. Alles musste in möglichst einfachen klaren Sätzen formuliert werden. Er selbst tat dies – gelegentlich allerdings mit dem zweischneidigen Ergebnis, dass die Worte wie Hammerschläge erschienen und dass sie eine Aura des Apodiktischen umgab.

Er war deshalb auch kein guter, gewinnender Chronist des Vergangenen. Die differenzierten Grautöne der Geschichte waren seine Sache nicht. Er wusste das. Als er zusammen mit seinen beiden Assistenten – Holger Schmieding und mir – in den späten achtziger Jahren eine englischsprachige Geschichte der deutschen Wirtschaftspolitik seit 1945 schreiben sollte, überließ er dies anschließend weitgehend seinen beiden Mitarbeitern und beschränkte sich auf das Vorwort. Das Ergebnis (Giersch, Paqué und Schmieding 1992) gefiel ihm übrigens. Es entlockte ihm gegenüber Holger Schmieding und mir ein unvergessliches, aber durchaus doppeldeutiges Kompliment: „Sie schreiben so schön.“

Studierende und Assistenten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft sowie viele Gäste bei Konferenzen werden die Diskussionen mit Herbert Giersch wohl nie vergessen. Sie waren fruchtbar – in dem Sinn, dass immer hart um die Sache gerungen wurde. Dabei fiel es sehr schwer, Giersch zu überzeugen. Zu verliebt war er in seine eigenen Hypothesen und Theorien. Sein pragmatisches Dazulernen vollzog sich gewissermaßen im Stillen. Man konnte dann bei der nächsten Gelegenheit beobachten, dass er anders formulierte und andere Schwerpunkte setzte. Es war eine Art evolutorisches Lernen. Dies galt vor allem bei den großen Fragen und großen Gegnern, mit denen er es argumentativ zu tun hatte. Genau dies bewahrte ihn vor jedem Dogmatismus. Genau darin liegt auch das „Sokratische“ seines Diskussionsstils: keine Beliebigkeit und Leichtigkeit der Überzeugung, aber eben doch am Ende eine Fortentwicklung der eigenen Gedankenwelt.

Das Evolutorische seines Denkens erkannte Giersch selbst. Er hielt es für eine Schwäche und eine Stärke zugleich: Schwäche in dem Sinne, dass es offensichtlich machte, dass sein Denken nicht die Perfektion hatte, die er seinem bewunderten Freund Robert Solow ohne Weiteres zubilligte; Stärke allerdings in dem Sinne, dass gerade das Unfertige die Fruchtbarkeit eines akademischen Lehrers befördert, denn nichts ist schöner für seine Schülerinnen und Schüler, als seine Gedanken anzupassen, weiterzuspinnen und gelegentlich auch zu widerlegen. In diesem Sinne „fruchtbar“ zu sein, darauf war Giersch stolz. In seltenen Anflügen von vermessener Selbstironie billigte er sich sogar einen „optimalen Grad“ von Unvollkommenheit zu.

In einem ganz wörtlichen Sinn wurde Giersch im Alter dann doch noch ein Förderer. Denn er gründete 1998 aus eigenem Vermögen eine Stiftung, die als gemeinnützig anerkannt wurde: „zur Förderung von wirtschaftswissenschaftlicher Forschung, Lehre und Diskussion, vorzugsweise auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und der weltwirtschaftlichen Entwicklung“, wie es in § 2 der Stiftungssatzung heißt.[4] Als er mir seine Absicht der Stiftungsgründung 1997 mitteilte, tat er dies mit einer Begründung, wie sie typischer für Giersch nicht sein könnte: Er wolle, so Giersch, die Leistungsbilanz zwischen ihm und der Gesellschaft zum Ausgleich bringen. Das ist ihm übrigens nicht gelungen. Denn diese Leistungsbilanz wies schon damals einen riesigen Überschuss auf – und zwar zu seinen Gunsten. Die Stiftung hat diesen Überschuss nur noch weiter vergrößert.

Danksagung

Ich danke Volker Giersch für die wohlwollende Lektüre des Manuskripts dieses Beitrags, Karen Horn für dessen gründliche redaktionelle Überarbeitung und Kathrin Meyer-Pinger für die sorgfältige letzte Durchsicht. Dank gilt auch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) dafür, dass sie einer auszugsweisen Übernahme von längeren Textstellen aus einem F.A.Z.-Beitrag von mir zugestimmt hat. Eine Würdigung des eigenen akademischen Lehrers und seines Werkes reicht über mehrere Dekaden. Deshalb erstreckt sich auch der Dank für inhaltliche Anregungen über einen langen Zeitraum und viele Gesprächspartner. Nur drei Namen seien ausdrücklich genannt: meine beiden großartigen Kollegen als Giersch-Assistenten, Holger Schmieding in den achtziger und Joachim Fels in den neunziger Jahren, sowie Carl Christian von Weizsäcker als langjähriger Wegbegleiter von Herbert Giersch und später – als väterlicher Freund – auch von mir.

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Online erschienen: 2021-12-07
Erschienen im Druck: 2021-12-31

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 6.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2021-0058/html
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